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Die Epochen des Hauptunterrichts im ersten Schuljahr an der Waldorfschule

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Mit diesem Beitrag möchte ich einen kleinen Einblick in den Hauptunterricht der ersten Klasse geben. An unserer Schule gibt es das bewegte Klassenzimmer. Dies ist ein Konzept, das den Unterrichtsverlauf deutlich prägt. Der Hauptunterricht gliedert sich auch noch in höheren Klassen in drei Abschnitte: Den rhythmischen Teil, den Arbeitsteil und den Erzählteil.
Es wird im ersten Schuljahr besonders auf das soziale Miteinander und das Zusammenwachsen der Klassengemeinschaft Wert gelegt. In den ersten zwei Jahren wiederholen sich in einem bestimmten Rhythmus – insgesamt dreimal – drei Epochen:
Formenzeichnen, Buchstabenlehre und Schreiben sowie Rechnen.
Im Folgenden möchte ich auf die einzelnen Epochen näher eingehen:

Formenzeichnen
Das Formenzeichnen ist ein Fach, was es in dieser Form nur an der Waldorfschule gibt. Es ist ein wichtiger Bestandteil des Lehrplans. Das Formenzeichnen regt zu einer innerlichen, seelischen Art der Formpflege und Gestaltung in uns Menschen an. Man beginnt als allererstes mit der Geraden und Krummen, welches die Urgestalten aller Formen sind. Sie tauchen überall in der Welt auf, in Steinen, Pflanzen, Tier und Mensch. Die Menschen tragen die Gerade und die Krumme in sich. Die Kinder nehmen in ihrer Umwelt Formen war, diese sind dann aber automatisch an einen Gegenstand gebunden. Es geht beim Formenzeichnen nicht darum , genaue Gegenstände in ihren Umrissen darzustellen. Mit dem Formenzeichen soll die Spur der Bewegung, eines Bewegungsablaufes aufgefasst und ernst genommen werden. Hierbei werden Formgebärden äußerer Dinge aus unserer Umwelt erlebt und sollen im Formenzeichnen erfasst und ergriffen und „erlebt“ werden, ganz losgelöst von Gegenständen. Es soll auch erlebt werden wie unterschiedlich sich Formen „anfühlen“ können. Um die Form auch innerlich wirklich zu erfassen und zu erleben, werden sie nicht nur gezeichnet, sondern werden auch auf den unterschiedlichsten Wegen, Laufen, Erspüren, Zeichnen in der Luft, mit Hand, mit Fuß, mit dem Körper erlebt. Es gibt viele Möglichkeiten des Erlebens . Und letztendlich erwerben die Kinder sich dadurch die Fähigkeit, das seelisch Erlebte in eine Bildgestalt umzuwandeln. Die Geschicklichkeit des Handgelenks wird geschult in allen Varianten dieser grundlegenden Urformen. Ebenso bildet das Formenzeichnen eine Vorbereitungsgrundlage für das Schreiben in der 1.Klasse. Die Kinder lernen ihr Blatt zu strukturieren und sich in der Ordnung des Blattes zurechtzufinden.

Gegensatz der Krummen und Geraden in zwei Formen

Buchstabenlehre und Schreiben
Das Erlernen der Buchstaben ist eine wunderschöne Epoche in der Waldorfschule. Es ist nicht die Frage, wie man den Kindern möglichst effektiv und schnell das Schreiben und Lesen beibringen kann. Man richtet seinen Blick auf die Frage, wie man in Bezug auf den Schrifterwerb der Seelensituation der Kinder möglichst genau entsprechen kann.
Im Grunde sollen die Kinder in der Waldorfschule am Ende des 1. Schuljahres 26 neue Freunde gefunden haben – die 26 Buchstaben des Alphabets. Freunde finden, das braucht Zeit, da kann man nicht von einem zum anderen eilen. Auch sollte man mehr über einen Freund wissen, als nur wie er ausschaut. Mit Freunden braucht man gemeinsame Erlebnisse und auch gemeinsame Erinnerungen. Durch vom Lehrer selbst ausgedachte Geschichten werden den SchülerInnen auf wunderbare und geheimnisvolle Weise die einzelnen Buchstaben nahe gebracht. Die Kinder hören mit offenem Mund zu und empfinden eine Geschichte so, als hätten sie sie gerade selbst erlebt. Mittels der Geschichte kann sich das Kind mit verschiedenen kleinen Persönlichkeiten aus dieser innerlich ganz verbinden. Es verbindet Erlebnisse, Empfindungen, Gefühle damit. Im Zentrum allen Lernens steht immer das Gefühl. Es kennzeichnet unsere Mitte und erfordert die erste Ansprache. Das Gefühl breitet Verbundenheit und Wärme über den Lerninhalt aus. Ansonsten blieben alle Bemühungen verkopft. Die erste Aufgabe des Lehrers besteht also darin, dem Kind im 1. Schuljahr die Lerninhalte durch sinnhafte Bilder und Stimmungen aufzuschließen. Wenn uns etwas berührt hat, dann wollen wir dem auf irgendeine Weise Ausdruck verleihen, es verarbeiten. Dafür bietet sich die Kunst an. Insbesondere die Malerei ist geeignet, weil normalerweise jedes Kind voraussetzungslos malen kann. Aus der Buchstabengeschichte entsteht jetzt ein Bild in den Epochenheften der Kinder. Das Malen bedeutet höchste innere Aktivität, eine kreative Umsetzung und Verarbeitung der inneren Bilder und Gefühle. Nach den ersten zwei Schritten der Buchstabeneinführung greift die Waldorfpädagogik nun zu einem weithin unbeachteten pädagogischen Mittel: die Nacht. Im Schlaf verarbeiten und verwandeln wir auf unbewusste Weise, was wir den Tag über erlebt haben. Wie bei einem Glas schlammigen Wassers, setzen sich die schwereren Teile auf dem Grund des Glases ab, während es oben aufklart. Auch das gestern Erlebte erscheint heute in einem etwas anderen Licht. Am nächsten Morgen tritt uns aus dem gestern gemalten Bild der Buchstabe wie von selbst entgegen, z.B. B aus dem Bär. Erst jetzt befinden wir uns auf der Erkenntnisebene und können sagen: „So schreiben wir, wenn wir B hören.“ Gemeinsam suchen nun die Kinder Wörter, die mit B anfangen oder in denen ein B versteckt ist. Außerdem lernen sie einen kleinen Spruch, der ihnen den Buchstaben immer wieder in Erinnerung ruft, z.B. beim B „Der braune brummige Bär beißt begeistert in die Blaubeere am Blaubeerbusch.“ Zu guter Letzt machen sich die Kinder mit den Bewegungsabläufen und Schwüngen des Buchstabens vertraut und üben diese mehrfach konzentriert in ihrem Epochenheft. Dies ist die sogenannte Dreischritt-Methode: Fühlen, Tätigsein, Verstehen. Die Buchstaben werden zusätzlich auch nachgespürt, indem man sie läuft, knetet, bastelt o.ä. Mit dieser Methode, die in der Waldorfschule bei der Buchstabeneinführung praktiziert wird, wird das ganze Seelenleben des Kindes angesprochen: Zuerst die Mitte (unser Fühlen), dann die Gliedmaßen (unser Tätigsein) und am Ende der Kopf (unser Verstehen). Auf diese Art beschäftigten sich die Kinder mindestens zwei Tage mit einem Buchstaben. Will man einen Buchstaben darüber hinaus noch nachlaufen, kneten, basteln, so sollte man sich insgesamt drei Tage Zeit nehmen. Nach dem Kennenlernen, folgt der Übprozess. Hat man einen neuen Freund gefunden, so muss man diese Freundschaft pflegen. Man darf ihn nicht gleich wieder vergessen. Für den Rest der Epoche kehren die gelernten Buchstaben systematisch wieder. Dabei geht es nicht nur um das Schreiben, sondern natürlich auch um das individuelle Benennen-Können der Buchstaben. Ziel ist es, nach dem 1. Schuljahr im Wesentlichen alle Buchstaben zu kennen und auch zu können.

„Der braune brummige Bär beißt begeistert in die Blaubeere am Blaubeerbusch“

Rechnen
In den ersten Rechenepochen geht es noch gar nicht um das Rechnen. Es geht darum, dass die Kinder die einzelnen Zahlen ebenso wie die Buchstaben in ihrer Qualität kennenlernen, erleben, verinnerlichen und lernen, mit ihnen umzugehen. Die Qualität der Zahl zeigt sich schon beim Kennenlernen der Zahl 1. Sie ist gewissermaßen wie eine Ureinheit, die zunächst alles in sich enthält. So wie einst die ganze Welt, das All, die Sonne und ihre Planeten, gewissermaßen in einer Ureinheit noch in sich selbst ruhte.
Es handelt sich um dabei im Bilde um den göttlichen Uranfang aller Dinge. Die Eins hat die Qualität der Einheit, der Ganzheit, des Allumfassenden oder auch des lebendigen Organismus. So lernen die Kinder die Eins als die größte Zahl der Welt kennen.
Nach und nach erarbeitet der Lehrer mit den SchülerInnen die einzelnen Zahlen in seiner Qualität. Auch hier wird jede Zahl in ihrer Qualität in Form eines Bildes festgehalten, z.B. die 4 in Form eines Jahreszeitenkreises. Bevor man am Ende des Schuljahres dann aber zum Rechnen kommt, bedarf es erst einmal einer guten Orientierung im Zahlenraum, der sich in der ersten Klasse bis zur 20 erstreckt. Erfolgreiches Rechnen basiert auf der Fähigkeit, sich in einem Zahlenraum orientieren zu können. Orientierung bedeutet, dass man wie bei einer Landkarte Bekanntes ausmachen kann, um sich Unbekanntes zu erschließen. Diese Logik ist die Grundlage aller Mathematik. Hat man hingegen keinerlei Orientierungspunkte, so kann man sich auch nicht zurechtfinden. Dies gilt sowohl für den Zahlenraum bis 10 als auch bis zur 20 und zur 100. Diese Orientierung bringen manche Kinder mit, bei anderen muss sie dezidiert geschult werden und darf nicht dem Zufall überlassen werden. Hierfür werden viele verschiedene Methoden angewandt. Die Kinder lernen mit all ihren Sinnen die verschiedenen Zahlen kennen: Sie lauschen den Klängen eines Klangstabes und müssen die angeschlagene Zahl nennen, sie stapeln Kissen und lernen hierbei das Zählen und die Menge kennen, sie erspüren die Zahlen, indem sie mit verschiedenen Materialien wie z.B. Kastanien oder Perlen arbeiten usw. Durch das zunächst intensive Beschäftigen mit den Zahlen, dem sicheren Kennenlernen des Zahlenraumes, können die Kinder am Ende des Schuljahres in der letzten Rechenepoche gut in das Kennenlernen der einzelnen Rechenarten und deren Anwendung eintauchen.

Die 4 in den vier Jahreszeiten


Am Ende des Schuljahres haben die Kinder die drei Epochen in dreimaliger wiederkehrender Form erlebt und sind gestärkt für das zweite Schuljahr.

Ein Beitrag von Smilla Ritscher